Sonntag, 30. März 2014

DER KÖRPER SPRICHT ...


... und die ganze Persönlichkeit spricht mit.

Fünf Fallberichte aus der Praxis. Eine Rezension von Alfred Schlienger:

E. Carnal, J. Sägesser (Hrsg.): Der Körper spricht... und die ganze Persönlichkeit spricht mit. Fallberichte aus der Psycho-Motorik. Edition SZH, Bern 2013

„Was macht ihr eigentlich in der Psychomotorik?“, werden in dieser Therapieform Tätige nicht selten gefragt. Obwohl seit über vierzig Jahren in der Schweiz etabliert, ist das konkrete Berufsfeld der Psychomotoriktherapie für viele, selbst für Fachpersonen aus verwandten Bereichen, oft noch erklärungsbedürftig. Nun ist eine Publikation erschienen, die auf höchst anschauliche Weise Einblicke gewährt in die spannende Vielfalt dieses Berufs und seiner therapeutischen Zugänge.

Anhand von fünf Fallberichten aus der Praxis wird in dieser Publikation aufgezeigt, wie eine konkrete Psychomotoriktherapie (PMT) aufgebaut ist, welche Schwerpunkte sie setzt und welche Entwicklungen möglich werden. Das ergibt fünf berührende therapeutische Einzelverläufe von Kindern im Alter von 6 bis 9 Jahren, die auf je eigene Art verdeutlichen, was den Kern und die Varietät dieser Therapieform ausmacht. Als zentrale Merkmale fallen in den Berichten die folgenden als besonders wichtig auf:

Es geht primär um den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung, die dem Kind erst ermöglicht, sich auf neue Erfahrungsfelder einzulassen. PMT ist mehr als Bewegungstherapie. Die Bewegung ist das Mittel, um Persönlichkeitsentwicklungen in Gang zu setzen. Denn in der Bewegung widerspiegelt sich der ganze Mensch. So werden Veränderungen möglich im sensorischen, motorischen, emotionalen, kognitiven und sozialen Bereich. PMT ist ressourcen- und entwicklungsorientiert, setzt also an bei den Stärken und eröffnet schrittweise neue Erprobungsräume für die Entwicklung von Sicherheit und Selbstbewusstheit. Das braucht Zeit, Geduld und Aufmerksamkeit und setzt eine sehr genaue und sensible Beobachtungsgabe voraus.

Die Wahl der jeweiligen Interventionen geschieht auf der Basis theoriegestützter Konzepte und ist geleitet von klaren Therapiezielen. Die Settings variieren von Einzel- über Gruppentherapie bis zum Erwachseneneinbezug in einer Eltern-Kind-Therapie. Die Eigenaktivität des Kindes ist von zentraler Bedeutung. Gerade in den freien Spielsituationen entwickeln Kinder eine enorme Kreativität und Eigenständigkeit.

PMT ist angewiesen auf eine gute Zusammenarbeit mit den Eltern und Lehrpersonen sowie den zuweisenden Instanzen. PMT leistet Integrationsarbeit für alle sozialen Kontexte und besitzt ein hohes präventives Potenzial bezüglich später schwerer zugänglichen dissozialen Entwicklungen.

Der Körper als Zugang zur Welt


Die vorliegenden Fallberichte wurden im Rahmen eines Kurses an der Universität Bern entwickelt. Jeder Artikel setzt dabei einen eigenen Schwerpunkt. Evelyne Carnal zeigt in ihrem Beitrag das enge Zusammenspiel von Bewegung und Psyche auf. Der Körper ist die primäre Zugangsweise des Kindes zur Welt. Körpererfahrungen sind untrennbar mit Emotionen verbunden. Negatives wird dabei tendenziell verdrängt und drückt sich schliesslich im Körper aus. Verdrängen kostet aber viel Energie, die dem Kind dann fürs Lernen und für die Entwicklung von Beziehungen fehlt. Das kann zu Blockaden in der Gesamtentwicklung führen. Am Beispiel von Markus (knapp 8) wird deutlich gemacht, wie ein Kind mit fehlendem inneren Halt zuerst sensomotorische Grunderfahrungen „nachholt“ (krabbeln auf unebenem Boden, barfuss über verschiedene Unterlagen gehen, in eine Decke ein- und wieder daraus ausgerollt werden, Sachen unter einem Tuch ertasten etc.) und sich mit vielfältigen Spielangeboten (Massage mit verschiedenen Bällen, klettern, Trampolin, Fangspiele, balancieren, kneten, Bewegungslandschaften etc.) Schritt für Schritt in einem dreijährigen Prozess für neue Erfahrungen öffnet.

Thema Angstüberwindung


Judith Sägesser berichtet, wie der ängstliche Walter (7) vom passiven Bewegt-Werden (in Wolldecke, Hängematte etc.) so zielgerichtet wie sachte ins aktive Bewegen gelockt werden kann. Es dauert sieben Monate, bis der skeptische Bewegungsvermeider, der am liebsten nur „Zuschauer“ ist, erstmals den sicheren Boden verlässt und sich über schwankenden Untergrund oder an die Sprossenwand zum Klettern getraut. Angstüberwindung ist ein häufiges Thema in der PMT. Vertrauen in sich und in den Körper gewinnen, heisst die psychomotorische Devise. Daniela Giuliani beschreibt die Arbeit bei einem Kind mit ADHS-Diagnose und erläutert dabei die zentrale Bedeutung der Entwicklung eines positiven Selbstkonzepts. 85% der Kinder mit ADHS zeigen Folgeprobleme im Bereich des Selbstwertgefühls. Auch Lars (8) verfügt anfänglich über eine schwache Selbststeuerung und traut sich nichts zu („Das klappt sowieso nicht!“). Über gezielte Verbesserung der Bewegungssteuerung und das Erlebnis der Selbstwirksamkeit im Spiel (Bogenschiessen, „Wackelbrücke“, Gruppenspiele etc.) wächst auch sein Selbstvertrauen („Ich schaffe es!“). Nach 1 ½ Jahren PMT hat Lars deutlich mehr Bezug zu anderen Kindern, wird der Wechsel von Kooperation zu Rivalität möglich und er kann mit Niederlagen umgehen.

Symbole der Sicherheit


Theresia Buchmann erläutert im speziellen Setting einer Mutter-Kind-Therapie, wie das fragile Beziehungsgefüge eines verhaltensauffälligen Drittklässlers durch das gemeinsame Handeln von Mutter und Sohn in der Therapie an Halt und Verlässlichkeit gewinnt. Hier wird in Spiel und Bewegung auch ein nonverbaler Dialog möglich, der vieles entkrampft und in der körperlichen Berührung Schleusen öffnet für die wahren Gefühle. Im Hüttenbauen erlebt Janosch (9) das selbsttätige Konstruieren einer bergenden Umwelt, die zu einem Symbol der Sicherheit wird. Über die Beziehung und das gemeinsame Spiel erfährt das Kind Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit, zwei zentrale Faktoren des Selbstwertgefühls. In der Therapie bei David Künzler entdeckt der unsichere und konfliktscheue Aron (6 ½ ) eine Videokamera und will sie aus eigenem Antrieb in den Therapiestunden einsetzen. Zuerst ist er nur Kameramann und filmt seinen Gruppenkollegen, mit der Zeit aber wagt er es auch, vor der Kamera zu agieren und nutzt die Visionierung der Videosequenzen in den abschliessenden Gesprächen als Lern- und Reflexionsmittel – ein erstaunlicher Prozess, bei dem ein technisches Gerät zum unterstützenden „Freund“ bei der eigenständigen Entwicklung eines neuen Selbstkonzepts wird.

Diese Publikation ist allen zu empfehlen, die als Lehrpersonen, Psychologen, Ärzte oder andere Instanzen potenziell zuweisende Funktionen ausüben für die Psychomotoriktherapie. Diese Studie kann aber auch als Anregung dienen, weitere Fallberichte zu dokumentieren, zum Beispiel auch von Mädchen mit entsprechenden Problemen sowie von jüngeren und älteren Kindern als den hier eindrücklich vorgestellten.