Sonntag, 30. März 2014

BEWEGUNGSVERSTEHEN


Die Psychomotorische Prioritäten- und Teleoanalyse

von Kimon Blos. Springer Verlag 2012

Mit der freundlichen Genehmigung des Autorn veröffentlichen wir an dieser Stelle das Geleitwort von Prof. Dr. Toni Reinelt, Wien.

Schon früh hat Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, körperliche Vorgänge in seine theoretischen Überlegungen zur Entstehung von Neurosen einbezogen. Auch später erfasst er mit den Begriffen des „individuellen Bewegungsgesetzes“ oder des „Lebensstils“ sowohl körperliche als auch seelische Prozesse.

Derartige Grundlagen haben auch den Weg geebnet, dass vor mehr als zwei Jahrzehnten im internen individualpsychologischen Fachdiskurs die Auseinandersetzung mit leibnahen psychotherapeutischen Behandlungsformen vermehrt in Gang gekommen ist.

In dem vorliegenden Buch greift Kimon Blos Ausführungen zum „individuellen Bewegungsgesetz“ und den davon abgeleiteten Prioritäten wieder auf und konkretisiert sie in einer Praxeologie systematischer Interpretations- und Interventionsentwürfe.

Er gliedert seine umfassende Arbeit in vier Hauptkapitel: (1.) lebensweltanalytische Postmodernediskussion, (2.) individualpsychologische Grundlagen und Ableitungen, (3.) psychomotorische Praxeologie und (4.) Fallbeispiel. Dabei gibt die vorangestellte Einleitung einen spannenden Orientierungsrahmen vor, der in drei Begegnungspunkten von Individualpsychologie und Postmoderne – der Ohnmacht der erschütterten Einheit, der Gestaltungsmacht in offener Vielheit und der Orientierungssuche nach individueller Wertigkeit – die aktuelle Relevanz individualpsychologischer Konstrukte und Ideen aufzeigt.

Die folgende kurze Auseinandersetzung mit diesen Hauptkapiteln soll dem Leser einen ersten Einblick in die Arbeit von Kimon Blos verschaffen:

(1.) Hier werden wesentliche Aspekte der Postmoderne und die Hindernisse, Herausforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten, die diese für die Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit mit sich bringen, herausgearbeitet. In dem Spannungsfeld zwischen Konformität und Isolation gilt es, in einem permanenten Prozess Positionen zu entwerfen, die eine größtmögliche Verträglichkeit zwischen der individuellen, dem Kern-Selbst entspringenden Wahrhaftigkeit und den gemeinschaftlichen Interessen ermöglichen. Dabei schält der Autor speziell jene bedeutende Facette heraus, nach der eine Gleichsetzung von Flexibilität und Freiheit nur dann zulässig ist, wenn die autonomen und gemeinschaftlichen Interessen gleichermaßen eingebunden werden.

(2.) Auch in der Individualpsychologie ist die Frage der Vereinbarkeit von individuellen Strebungen und gemeinschaftlichen Interessen einerseits und die Suche nach einer sicheren, die eigene Persönlichkeit möglichst wenig irritierenden Position andererseits, ein bedeutsames Thema. So finden wichtige inhaltliche Schwerpunkte der Ausführungen des Autors zur Postmoderne eine Fortsetzung in seiner Auseinandersetzung mit Veröffentlichungen von Alfred Adler und anderen Vertretern der Individualpsychologie – deren Aussagen und Festlegungen er auch immer wieder kritisch beleuchtet. Unsicherheit, Minderwertigkeitsgefühl und Ohnmacht als Motor für Kompensations-bestrebungen zur Erhaltung oder Wiedererlangung des Selbstwertgefühls und die von mehr oder weniger fiktiven Zielen geleiteten Bemühungen des Individuums, einen für das Ego verträglichen Zustand zu erlangen, werden von ihm aufgegriffen und weiterführend behandelt. In Hinarbeitung auf das eigentliche Anliegen seiner Untersuchung – dem Entwurf einer Entwicklungstheorie und einer daraus ableitbaren Orientierung für die psychomotorische Praxis – schreibt der Autor der Erlangung von Kompetenzen durch positive und negative Überkompensation einen besonderen Stellenwert zu. Eine relative Sicherheit und Wahlfreiheit für Entscheidungen ist für ihn nur dann gegeben, wenn sowohl personale als auch soziale Kompetenzen entwickelt werden, da eine einseitige Ausformung derselben entweder in die Isolation oder in eine übermäßige Konformität und Abhängigkeit führen würde, was der Ausgestaltung und Ausdifferenzierung eines Persönlichkeitsprofils abträglich wäre. Damit wird auch verständlich, dass eine Positionierung und Profilierung des Individuums personale Kompetenzen (Vermögen/Macht) benötigt. Aus diesem Blickwinkel bestärken seine Ausführungen einen Bedeutungswandel des in der frühen Individualpsychologie oft negativ konnotierten Machtstrebens dahingehend, dass sie auch dessen positive Potenz deutlich machen. Diese durch den Autor systematisch herausgearbeitete Facette stellt einen für die Individualpsychologie wichtigen Beitrag zu einer differenzierteren Betrachtung von Autonomie, personaler Macht und Positionierung des Individuums innerhalb der Gemeinschaft dar. Seine in der Auseinandersetzung mit der Postmoderne und der Individualpsychologie herausgearbeiteten Überlegungen werden von ihm unter Adaptierung der von Kefir entwickelten Persönlichkeitstheorie der Prioritäten systematisiert und in einem Entwicklungsmodell festgehalten, das zudem einer Konzeptanalyse unterworfen wird, was sein Bemühen um wissenschaftliche Redlichkeit unterstreicht.

(3.) Im Fortschreiten der Arbeit und im Hinblick auf die psychomotorische Praxeologie, die eindrucksvoll entfaltet wird, ordnet der Autor Beobachtungsfeldern der therapeutischen Praxis prioritätstypische Verhaltensweisen zu. Der solchermaßen entstandene Raster soll die Untersuchung des Einzelfalles durch eine Analyse der Prioritäten ermöglichen, wobei in einem weiteren nachfolgenden Schritt über eine Teleoanalyse ein tieferes und individualisiertes Verständnis von Beweggründen und Motiven auch durch die Einbeziehung lebensgeschichtlicher Ereignisse aus vergangenen und aktuellen Lebensräumen angestrebt wird. Der Transfer in die Praxis ist durch die Fallvignette.

(4.) und durch viele weitere konkrete Beispiele gewährleistet, wobei das Menschenbild der Individualpsychologie jeweils konsistent durchscheint.

Kimon Blos hat eine aufwendige und beachtliche wissenschaftliche Leistung erbracht, wobei seine Arbeit auch sehr gut zwischen metatheoretischen Aspekten und Fragestellungen (wie etwa zum Menschenbild der IP) und den verschiedenen Stufen der Konkretion vermittelt. Trotz der Vielfalt und Komplexität, die sich durch die überwiegend polar bzw. mehrdimensional angelegten zentralen Konstrukte der IP ergeben, bleiben die leitenden Intentionen der Arbeit deutlich erkennbar, Aufbau und Ergebnis seiner Forschung für den Leser in den einzelnen Abschnitten jederzeit nachvollziehbar. Dabei stellt das konsequent entfaltete und ausdifferenzierte Entwicklungsmodell eine stringente systematische Ausformung und Weiterführung klassischer individualpsychologischer Positionen dar und bietet somit nicht nur für die Psychomotorik einen neuen Ansatz des Verstehens und Förderns, sondern eröffnet auch für die Theorie der Individualpsychologie interessante und bedenkenswerte neue Facetten. Ebenso kann sich das um die psychomotorisch-motologischen Aspekte bereicherte individualpsychologische Persönlichkeits- und Typisierungskonzept der Prioritäten in Erinnerung bringen und die Lust wecken, sich wieder mit dessen Erkenntnispotential auseinander zu setzen, welches ich für die Psychomotorik als erheblich einschätze. Die Prioritäten beschreiben nämlich in besonderem Maße Verhaltensweisen und Gewohnheiten der Klienten, für die es dort bisher keine so schlüssige Erklärung gab. So entsteht eine Klientenspezifik, die die diagnostische Dimension zu einer besonderen Stärke des Ansatzes erhebt, der m. E. eine große Bereicherung für den Fachdiskurs der Motologie darstellt und eine Lücke zwischen dem kompetenz- und handlungsorientierten sowie dem verstehenden Ansatz füllt.

Der Autor hat durch konsequente wissenschaftliche Arbeit einen neuen Zugang für die Analyse und Durchführung der psychomotorischen Praxeologie entwickelt. Sein an die Individualpsychologie angelehnter Ansatz ergänzt die bisher bestehenden sinnvoll und lässt viele Verhaltensweisen der Klienten in einem neuen Licht erscheinen. Der Verfasser erweist sich als profunder Kenner der beiden Fachdiskurse, die er zusammenführt. Die Arbeit ist in sich stimmig aufgebaut und hält den Spannungsbogen anspruchsvoller Argumentation auch in den Praxisteilen. Seine Forschungsergebnisse und die daraus abgeleiteten Interventionen sind vielversprechend, dürfen sich allerdings nunmehr noch umfassender auf dem Prüfstand der praktischen Arbeit bewähren.