Sonntag, 30. März 2014

KINDER MIT AD(H)S BRAUCHEN BEWEGUNG


Psychomotoriktherapie

verfasst von Theresia Buchmann

Die Psychomotoriktherapie eignet sich als Intervention bei Kindern mit AD(H)S ganz besonders. Ressourcen und Stärken des Kindes stehen im Blickfeld, Gefühle wie Angst und Wut werden erlebbar und finden ihren Platz, die Wahrnehmungs-fähigkeit wird über die Bewegung geschult und Beziehung entsteht auf nonverbaler Ebene. Zudem arbeitet sie vernetzt mit der Schule und den Eltern.


1. Bewegung ermöglicht Selbstwirksamkeit


Die allgemeine motorische Entwicklung ist bei einem Kind mit AD(H)S verzögert, die präzise Koordination eines Bewegungsablaufes ist häufig eine Herausforderung. Einschiessende Bewegungen stossen das Glas auf dem Familientisch um und starke Emotionen können unkontrollierte Bewegungen auslösen. In der Psychomotoriktherapie besteht ein attraktives Bewegungsangebot, welches die Kinder zu Eigeninitiative und Aktivität auffordert. Wir Therapeutinnen und Therapeuten nehmen die Impulse der Kinder auf, interessieren uns für ihre Ideen, bringen Struktur und einen Rhythmus in die Bewegungsaktivitäten und freuen uns mit, wenn das Kind über die Bewegung Lernerfolge erzielt. Wir begleiten das Kind, damit es beispielsweise von der Sprossenwand nicht einmal, sondern viele Male springt bis es ihm spielend gelingt, auf den Füssen zu landen. In der Wiederholung liegt viel Kraft, das Kind kann das Bewegungserlebnis verinnerlichen und sich neue Bewegungsabläufe aneignen. Seine Körperwahrnehmung wird über die bewusste Bewegung geschult und mit der Zeit lernt es seine Bewegungen besser zu steuern.


2. Nonverbale Kommunikation schafft Zugehörigkeit

Eltern klagen oft, dass sie von ihrem Kind nicht gehört werden. Die Menge der Hinweise verstopft die Ohren, die Befehle prallen an ihnen ab, sie nehmen sie nicht mehr wahr. Als Psychomotoriktherapeutin kann ich ausgiebig, ohne Worte, über den Körper und die Bewegung in einen Dialog mit dem Kind treten.

Noemie, neunjährig, ist in sich versunken. Von Anfang an turnt sie in einer Kleingruppe (drei Kinder) mit. Sie nutzt die Möglichkeit zu beobachten um später von andern Kindern Bewegungsideen zu kopieren. Beim gemeinsamen Schaukeln auf dem grossen Holzbrett, beim Klettern in die Hütte auf erhöhter Ebene, bei der Kissenschlacht etc. ergeben sich zahlreiche Interaktionen. Noemi muss sich nicht exponieren, keine Erwartungen erfüllen. Über die Bewegung, im gemeinsamen Tun ist sie ein Teil der Gruppe. Kinder können gemeinsam spielen, selbst wenn sie eine andere Sprache sprechen.


3. Stärken des Kindes sind Ressourcen für Entwicklung


Es erstaunt immer wieder, wie Kinder in der Therapie zur Ruhe kommen und Unerwartetes leisten. Luzius hat Lernschwierigkeiten und ist ein Einzelgänger. Diese beiden Tatsachen verunsichern die Eltern und Lehrpersonen aus verständlichen Gründen. Luzius hat die Fähigkeit, seine Emotionen in Geschichten auszudrücken. Nachdem er beim Hüttebauen und Schaukeln seine innere Stille gefunden hat, sind wunderbare Geschichten wie „der Räuber baut eine Hütte“ entstanden:

Dem Räuber gefiel es nicht im Dorf. Im Dorf hatte es immer schlecht gerochen nach Parfum. Der Räuber roch gar nicht gerne Parfum. Etwas später entdeckte er einen Berg, nicht sehr hoch. Er sammelte Holz und baute eine Leiter und ging auf den Berg. Er sah einen grossen Stein liegen und er dachte, da könnte er ein Haus daneben bauen. Er war schon am Dach decken und musste nur noch den Kamin bauen. Auf den Stein sass er jeweils am Mittag. Für die alten Leute sammelte er Holz und verdiente so ein bisschen Geld. Er musste nicht mehr rauben gehen. Es wusste niemand, wo er wohnte. Bei ihm schien die Sonne immer eine Stunde länger. Er war glücklich.

Diese und ähnliche Geschichten lösen bei den Eltern Zuversicht aus. Es stärkt ihren Glauben, dass Luzius seinen Platz im Leben finden wird. Diese positive Haltung wiederum hat eine Wirkung auf die Schule. Die Situation im Alltag entspannt sich und der Blick für kleine Entwicklungsschritte von Luzius wird möglich.


4. Mit Emotionen umgehen können gibt positive Energie


Ein ängstliches Kind erhält im Alltag üblicherweise Zuwendung und Unterstützung. Schwieriger wird es, wenn diese Angst in Aggression und Wut übergeht. Diese beiden Gefühle werden weniger toleriert, wirken auf die Umgebung bedrohlich. Wie entspannend es sein kann, wenn Wut und Aggressionen ausgelebt werden können, erleben wir in den Therapiestunden. Beim Sitzballspielen, beim Zerstören eines gebauten Turmes oder währenddem der Boxsack mit Faustschlägen traktiert wird, kann das Kind seinen Frustrationen Raum geben. Es gibt auch Kinder, welche mit uns kämpfen und ihre Kräfte messen wollen. Unsere Aufgabe als Therapeutin besteht darin, dem Kind beizustehen, damit es einen Umgang mit seinen Gefühlen findet, diese aushalten kann. Kinder mit AD(H)S sind häufig feinfühlig, sensibel in ihrem Empfinden. Sie fürchten sich in der Höhe und bei starken Schaukelbewegungen. Die Kinder verkriechen sich gerne in Schutzhöhlen, sie quetschen sich hinter Matten, in kleine Ecken und Nischen. In der Begrenzung spüren sie den eigenen Körper. Später versuchen sie sich im Bauen von Häusern und Burgen. Sie erweitern ihren Raum, ihre physische und psychische Hülle. Oft ist ein langer Prozess nötig, bis es ihnen gelingt, eine Hütte in Form eines Schutzraumes zu bauen.

„Die Konstruktion einer Hütte kann, besonders an einem therapeutischen Ort, als ein Elan der Wiederversicherung gegenüber Angst und Unsicherheit verstanden werden.“ (Senn: 2007)


5. Körperwahrnehmung fördert Präsenz im Hier und Jetzt


Die Therapiekinder haben häufig Mühe mit Nähe und Distanz. Gewisse Kinder verweigern anfänglich den Kontakt, andere suchen ihn explizit und unbedingt. Ein wesentliches Ziel ist es, zum eigenen Körper eine Beziehung aufzubauen. Dafür gibt es diverse Techniken. Als Psychomotoriktherapeutin sind mir diverse Körperarbeits– und Entspannungstechniken vertraut, sei dies Joga, Tai-Chi, Feldenkrais, Kinästhetik etc. Nicht selten spezialisieren sich Psychomotorik-therapeutinnen in einem dieser genannten Spezialgebiete.

Mit der Zeit kann das Kind Nähe und Distanz regulieren und es lernt Körperkontakt zuzulassen, sei dies über den Ball oder ein anderes Hilfsmittel. Es lässt sich berühren. Die Nähe zu andern stärkt die Seele und Distanz schützt das Selbst. Sigmund Freud schrieb bereits 1923, dass das Ego geboren werde durch das Berührt werden und durch innere und äussere Erfahrungen des Körpers. Eltern melden uns zurück, dass sich Kinder, welche durch ihre Hypersensibilität früher keine körperliche Nähe zugelassen hatten, nun während der Therapie, im Alter von sechs oder sieben Jahren diese bei ihnen suchen würden. So möchte Dario plötzlich nach dem Essen auf den Schoss sitzen, oder Nora will auf dem Sofa der Mutter ganz nahe sein. Eine Berührung nehmen wir in der Regel unmittelbar wahr, der Körperkontakt lenkt die Aufmerksamkeit in die Gegenwart. Eltern von sehr unruhigen Kindern erleben, wie sich ihre Kinder plötzlich auf die Stille einlassen können.


6. Soziales Umfeld einbeziehen stärkt alle Beteiligten


Interdisziplinäre Arbeit und ein systemischer Blickwinkel sind relevant, wenn es um die Unterstützung der Entwicklung eines Kindes geht. Anregungen und Inputs werden ausgetauscht. Hilfreich sind die gegenseitige Anerkennung und das Wissen, dass andere am selben Strick ziehen. Durch das vernetzte Arbeiten erfährt das Kind Kongruenz und Verbindlichkeiten. Es fühlt sich nicht in die Therapie abgeschoben. Stefanie kann in der Therapie zwanzig Minuten an einer Sache verweilen; was wäre hilfreich, damit ihr diese Ausdauer und Konzentration auch im Unterricht gelingt? Mit solchen und ähnlichen Fragestellungen findet ein Transfer von der Therapie in den Alltag statt.

Die Psychomotoriktherapie macht Sinn, weil die Erfahrungen und Erkenntnisse aus den Therapiestunden Anwendung finden im Alltag. Und die Psychomotoriktherapie arbeitet darauf hin, dass das Kind die Herausforderungen im Alltag schliesslich ohne Therapie schaffen wird, mit der Unterstützung seines Umfeldes!


Literatur
Senn B.: Psychomotorik-Therapie und individuelle Entwicklung, Informationsbuch 2007. Edition SZH/CSPS, Senn B. „Das Hüttenbauen in der Psychomotorik-Therapie“, S. 63–65.